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40 Jahre Sprache im technischen Zeitalter

40 Jahre Sprache im technischen Zeitalter

Helmut Böttiger

(aus Sprache im technischen Zeitalter, Heft Nr. 166, S. 188-193)

Literaturzeitschriften haben noch Platz für Literatur. Denn sie sind ja eigens für die Literatur da. Das heißt: für die Texte selbst, nicht für das Schreiben oder gar Sprechen darüber. Das ist gar nicht so selbstverständlich, wie ein Blick in die Geschichte und auf den aktuellen Zustand von Literaturzeitschriften zeigt. Sprache im technischen Zeitalter ist dabei, je länger man sich damit beschäftigt, ein faszinierender Sonderfall. Diese Zeitschrift hat sich nämlich immer auffallend antizyklisch verhalten.

Am meisten sticht das ins Auge, wenn man die Zeit betrachtet, in der Literaturzeitschriften am deutlichsten den Zeitgeist ausdrückten und über das engere Feld der Literatur hinauswirkten. Das war die Zeit einer sogenannten Gegenöffentlichkeit, einer Subkultur. Seit Mitte der sechziger Jahre, und geradezu flächendeckend dann im Laufe der siebziger, spielten Literaturzeitschriften eine Rolle, die weder vorher noch nachher jemals einen Vergleich haben konnte. Es war eine Übergangszeit: Eine Zeitlang konnte sich eine alternative Kultur, vor allem eine Alltags- und Lebenskultur etablieren, die deutlich vom offiziellen Diskurs zu unterscheiden war. Zeitschriften aller Art, die man meistens vereinfachend „Literaturzeitschriften“ nannte, dienten dabei der Selbstverständigung einer bestimmten Szene: Da flossen der Kampf gegen Atomkraftwerke, die Problematik des Abspülens in Wohngemeinschaften und das Schreiben von Gedichten zusammen.

Es war schon immer so, daß mehr Gedichte geschrieben als gelesen wurden. Wer Gedichte schreibt, hat nicht unbedingt Interesse daran, Gedichte anderer zu lesen – es ist eh eine der interessantesten Fragen, was das literarische Leben überhaupt betrifft: Würden weniger Gedichte geschrieben und bei Verlagen, Zeitungen oder eben vor allem Literaturzeitschriften eingereicht, wenn mehr Gedichte gelesen würden, gute Gedichte selbstverständlich? Wenn die verkaufte Auflage von Lyrikbänden, die allgemein als diskutabel betrachtet werden, ungefähr 1000 Exemplare erreicht, freut man sich bei den Betroffenen schon geradezu unbändig. Die Dunkelziffer der Schreibenden jedoch ist ungemein viel höher – man muß nur einmal die Manuskriptberge, die jeden Tag eingehen, bei einem Lektor eines belletristisch ausgerichteten Verlags oder einem Zeitschriftenmacher anschauen. Je seriöser diese Verantwortlichen sind – und Kollege Thomas Geiger von Sprache im technischen Zeitalter gehört auf jeden Fall dazu – desto mehr schweigen sie darüber. Schweigen hat überhaupt viel mit dem Verständnis von Lyrik zu tun.

Die Zeit der literarischen Subkultur hat das Bild, wie eine Literaturzeitschrift aussehen muß, bis heute entscheidend geprägt. Deswegen ist es nützlich, sich noch einmal genauer anzuschauen, was damals stattfand. „Subkultur“ – und deswegen gibt es heute keine mehr – definierte sich wesentlich dadurch, daß man gegen eine offizielle, etablierte Kultur antrat. Man konnte eine Zeitlang tatsächlich eine andere, alternative Sprache sprechen, und die etablierten Strukturen brauchten eine Weile, diese alternative Sprache zu integrieren, sie sich also mit Gewinn selbst zuzuführen. Das war dann Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre langsam der Fall, und wollte man ein bißchen zynisch sein, könnte man sogar sagen: mit der Gründung der taz war diese Zeit der Gegenöffentlichkeit abgeschlossen, und es wurde eine neue Form von Herrschaftssprache entwickelt, die die Elemente des vormals Alternativen in sich aufnahm – ja, das war sogar schnell eine notwendige Voraussetzung dafür geworden, bürgerliche Karriere zu machen.

Die meisten Literaturzeitschriften jedoch überlebten ihre Glanzzeit nicht. Mitte der achtziger Jahre war kaum noch eine von denen übriggeblieben, von deren Existenz man immer zuverlässig durch das „Ulcus Molle Info“ erfahren hatte. Jahrelang gab es in jeder Universitätsstadt mindestens eine Literaturzeitschrift, mit oft äußerst phantasievollen Namen, manche erreichten zeitweise eine erstaunliche Reichweite. Vom Nachtcafé in Freiburg etwa wurden mehrere Nummern hintereinander mehr als viertausend Mal verkauft – und zwar nicht über den herkömmlichen Vertrieb und den herkömmlichen Buchhandel, sondern dadurch, daß Heiner Egge, ein abgebrochener Germanistikstudent, mit seinem Auto alle alternativen Buchläden in der Republik abklapperte und das Heft auch in diversen Universitätsmensen neben den K-Gruppen mittels eines Büchertisches feilbot. Literatur gehörte anscheinend zum täglichen Gebrauch, sie war ein Lebensmittel. Im Nachtcafé fanden sich selbstredend immer sehr viele Gedichte, aber im Mittelpunkt der Hefte, und das war vermutlich der Trick, stand immer ein spezielles Thema. In Nummer 14 etwa gab es Erfahrungsberichte aus alternativen Bauernhöfen – nach einer Woche war die gesamte Nummer vergriffen. Noch schlimmer war es mit dem Thema „Frauen“ vom Herbst 1978, das, im Zeichen des Niedergangs, im Frühjahr 1982 das Thema „Männergruppe“ nach sich zog, das noch einmal reißenden Abgang fand. Es war eigentlich egal, was daneben noch an literarischen Texten im Heft zu lesen war, aber, und das war durchaus nicht unwichtig, sie gehörten mit zur Aura. Literaturzeitschriften lagen in der Kulturszene ganz selbstverständlich in jeder Küche herum. Man war im Alltag von Literatur umstellt.

Ein Gedicht aus dieser Zeit, auf das ich bei meinen Recherchen gestoßen bin, möchte ich hier vorlesen. Es trifft ins Zentrum des heutigen Abends. Es eröffnete das Nachtcafé Nr. 15 aus dem Herbst 1979, und ich bitte darum, dem Text konzentriert zu folgen. Er trägt den Titel „in andorra war ich stiller“ und geht so:

„schöne neue welt. land der erinnerung. unterwegs. ein bewohner des elfenbeinturmes und örtlich betäubt.

hundert jahre einsamkeit. leb wohl berlin.

auf der fahrt zur insel nantucket der kurze brief zum langen abschied.

wanderer kommst du nach spa … sage du habest uns schreiben gesehen, ein irisches tagebuch.

und wenn ich nicht mehr weiß, wo ich vor kurzem war, so intensiv, dann schlage ich bei artmann nach, oder wars kerouac? stolz, daß auch andere von meinen erlebnissen lesen.

ich reite über den bodensee zur insel des zweiten gesichts.

und nachts schreibe ich an einem pryrenäenbuch über sansibar und den letzten grund.

jeden morgen bin ich überrascht, daß ich den ausgang gefunden habe, aus den irrwegen der sich überlappenden erinnerung.

und ich beneide konrad bayer, der den weg zurückverfolgt, den ich nachts ging, mit seinem sechsten sinn.

zwischen gestern und morgen der fluchtpunkt der landessprache.

und wenn mir schwindelt beim endspiel in andorra stehe ich am fenster und zähle die frösche.“

Dieses Gedicht schließt den Kreis – von den Aufbrüchen damals bis zur Situation heute. Denn der Autor ist der heutige Leiter des Literarischen Colloquiums, Ulrich Janetzki.

Was das Antizyklische von Sprache im technischen Zeitalter anbelangt – der Boom von Literaturzeitschriften in dieser Glanzzeit der Bundesrepublik ging an dieser Zeitschrift völlig vorbei. Das lag ganz einfach daran, daß sie keine Primärliteratur druckte. Norbert Miller hat einmal darauf aufmerksam gemacht, wie die Konzeption der Spritz entstand – neben den furiosen und letztlich konkurrenzlosen Akzenten war gar kein Platz mehr, vor allem, wenn man dasselbe Verständnis von Literatur hatte. Die Spritz widmete sich also grundsätzlich dem Essay und der Wissenschaft, und während woanders schon die ersten Untergrundpostillen eine bis dato völlig ungeahnte Basissprache freisetzten, widmete man sich bei der Spritz in aller Konsequenz dem Zürcher Literaturstreit, ja, man beschwor ihn von Berlin aus geradezu herauf.

Die Spritz begann erst dann, sich der Primärliteratur zu widmen, als sich woanders kaum einer mehr dafür interessierte. Das war Anfang der achtziger Jahre. Da begann man, ein Supplement der Zeitschrift beizufügen, es war auf gelben Seiten gedruckt und hieß präzisierend „Literatur im technischen Zeitalter“ – da standen dann tatsächlich Gedichte, und man fand auf diesen gelben Seiten tatsächlich alles, von „Aalräuchereien“ bis „Zylinderstifte“.

Die Spritz hat also in den achtziger Jahren den Bogen zurückgeschlagen, von Wissenschaft zu Literatur, während im allgemeinen Diskurs ringsumher sich der Trend umkehrte: Er ging weg von der Literatur hin zur Wissenschaft. Die aufkommenden frankophilen Neigungen hierbei, der Poststrukturalismus und das Derridahafte, zeigten dabei allerdings eine merkwürdige Tendenz, als Wissenschaftssprache literarisch sein zu wollen, subjektiv. Das war allzu häufig unverständlich, und deswegen sagte man „literarisch“ dazu. Ein größeres Mißverständnis von Literatur ist kaum vorstellbar, und deshalb war es ein richtiger Schritt, hier ein Gegengewicht zu setzen. Walter Höllerer verkörperte ja schon in seiner Person die Erkenntnis, daß sich Wissenschaft und Literatur keineswegs gegenseitig ausschließen müssen, sondern sich gegenseitig sogar befruchten können – wenn man die richtigen Wege dafür findet. In dieser Zeit begann unter anderem die Zusammenarbeit mit dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD, dessen Stipendiaten hier ein Forum fanden: und das war schon ein Beispiel dafür, welchen Weg man gehen konnte. Es hat etwas damit zu tun, daß man die Institutionen, die vor Ort tätig sind, sinnvoll einbindet. Da hatte die Spritz, mit Sitz in Westberlin, einen gewissen Standortvorteil, der nach 1989 sogar zu einem entscheidenden Vorteil werden konnte.

Was eine Literaturzeitschrift ist, hatte sich dabei natürlich durch die vielen Prozesse und die vielen Wandlungen des Literaturbetriebs seit den sechziger Jahren verändert, und die Spritz trägt dem Rechnung. Nur ein Monolith wie die Akzente kann sich bis heute davon nahezu unbeeinflußt zeigen, aber für solch eine beneidenswerte Existenz gibt es eben nur einen Platz. Zeitschriften wurden im Lauf der Zeit ein schnelles und flexibles Medium, um neue Entwicklungen vorzubereiten, aufzunehmen, voranzutreiben. Es gab schließlich auch eine Zeit, als die Gegenbuchmesse fast so wichtig wie die Buchmesse war und Qualitäten geschaffen wurden, die heute wichtiger denn je sind: In Zeitschriften gibt es Raum für Entdeckungen, für Experimente, für poetologische Auseinandersetzungen. Zeitschriften sind das Mittel zur Selbstverständigung in einer engeren literarischen Szene, sie können etwas bündeln und ausstrahlen. Vor allem für die Lyrik ist das wichtig – die Anzahl der Lyrikbände pro Jahr in den ernstzunehmenden Verlagen ist immer geringer geworden. Die Zeitschrift „Zwischen den Zeilen“ etwa hat sich auf die ästhetisch relevante zeitgenössische Lyrik spezialisiert und ist als Multiplikator weitaus wichtiger, als es die konkrete Auflage besagt. Ansonsten sind aber Literaturzeitschriften mittlerweile sehr dünn gesät – als Selbstverständigung einer bestimmten Gruppe, in der Tradition einer begrenzten literarischen Öffentlichkeit, könnte man in den letzten Jahren die Kölner Konzepte nennen, die Hundspost oder die Leipziger edit. Von der Zeitschriftenwelle der besagten Aufbruchsjahre ist, nachdem auch das Litfaß das Zeitliche gesegnet hat, eigentlich nur noch das Schreibheft aus Essen übriggeblieben, das immer noch wertvolle Späherdienste leistet, zum Beispiel im Falle von Hermann Melville. Allerdings in der charakteristischen, gegenläufigen Bewegung zu Sprache im technischen Zeitalter: das Essayistische, Literaturwissenschaftliche nimmt im Schreibheft immer breiteren Raum ein.

Die Spritz wurde im Laufe der neunziger Jahre immer wichtiger, und das liegt sicher daran, daß hier immer konsequenter die Chancen genutzt werden, die eine Institution wie das Literarische Colloquium bietet. Dieses Haus ist ein natürlicher Umschlagplatz, eine unverzichtbare Informationsbörse, hier finden Schriftstellertreffen und Werkstattgespräche statt, und wenn man hier rigide auf literarische Qualität setzt, kann eine Literaturzeitschrift daraus vielfältigen Nutzen ziehen. „Subkultur“ im alten Sinn kann es heute gar nicht mehr geben, dafür ist das literarische Netz mittlerweile viel zu eng gespannt, und eine literarische Institution wie das Literarische Colloquium ist an die Stelle dessen getreten, was früher an vielen uneinsehbaren Stellen keimte und sproß. In der Spritz finden sich heute mit ziemlicher Sicherheit die interessantesten jungen Autoren sowie aktuelle Texte bereits etablierter Schriftsteller, die Zeitschrift hat in ihren besten Momenten so etwas wie einen Dokumentationscharakter des gegenwärtigen literarischen Lebens. Lutz Seiler wurde lange vor seinem vielbesprochenen Gedichtband und neben Veröffentlichungen im moosbrand zum ersten Mal ausführlich in der Spritz vorgestellt. Judith Hermann war hier zu lesen, lange bevor sie ihren unvergleichlichen Erfolgsweg antrat – sie war zur „Autorenwerkstatt“ des Literarischen Colloquiums eingeladen. So wie übrigens auch Georg Klein, dessen Erstveröffentlichung – und lange Zeit die einzige Veröffentlichung überhaupt – in den achtziger Jahren in Sprache im technischen Zeitalter erfolgte. Ein Bild vom April 2001 kann man getrost symbolisch nennen: als Georg Klein, jetzt als Erfolgsautor, im LCB las, steckte ihm Renate von Mangoldt, deren Autorenfotos längst zur Literaturgeschichte gehören, ein Porträt aus den damaligen, frühen Jahren zu – Klein ließ es so verstohlen in seiner inneren Jackettasche verschwinden, wie es sonst immer nur die anonymen Handlungsreisenden in seinen Texten machen.

Und natürlich stand die Spritz auch am Beginn des Weges von Ingo Schulze: Als er 1995 für alle überraschend den Förderpreis zum im Hause des LCB vergebenen Alfred-Döblin-Preis erhielt, stand sein Text, als seine allererste Veröffentlichung, zusammen mit dem gebührenden Autorenfoto von Renate von Mangoldt, natürlich in der Spritz – nicht ohne die dazugehörige Laudatio, in der zuerst die Preisträgerin Katja Lange-Müller gewürdigt wurde und dann zu einer ungeahnten literarischen Taufe und Namensgebung vorangeschritten wurde, mit den Worten: „Wer aber ist Ingo Schulze?“

Mittlerweile weiß das jeder. Und ich bin sicher, daß derlei Taufvorgänge auch künftig in der Spritz erfolgen werden.

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